Es war einer dieser unbeschwerten Sommer, an die man sich als Erwachsene gern erinnert: Meine Freundinnen und ich waren 16 und verbrachten unsere freien Tage an den Stränden von Zingst und Prerow. Abends trafen wir uns im Freibad meiner Heimatstadt Stralsund, um heimlich Bier zu trinken und mit Jungs zu flirten. Während wir das Leben genossen, saß ich oft gedankenverloren am Meer, vergrub die Füße tief im heißen Sand und fragte mich, wie es auf der anderen Seite dieser so gewaltig wirkenden Ostsee wohl aussieht. Sitzt dort auch ein 16-jähriges Mädchen am Strand? Oder gibt es da nur steinige Küsten? Ich träumte davon, es irgendwann herauszufinden.
Ein erster Versuch scheiterte, als ich 21 Jahre alt war. Mein Kumpel und ich wollten mit meinem alten Opel Corsa zu einer Ostseeumrundung aufbrechen. Leider konnten wir uns als Studenten nicht einmal das Benzin für die Strecke leisten. Acht Jahre später starte ich den Motor unseres Campers und kann noch immer nicht richtig glauben, dass ich mir gerade einen Lebenstraum erfülle.
Mein Mann Gregor rutscht unruhig auf dem Beifahrersitz hin und her. Er ist genauso aufgeregt wie ich. Schon vor einem Jahr haben wir uns die grobe Route überlegt: Olsztyn, Riga, Tallinn, Helsinki, Nordkap, Stockholm, Skagen. Auf dem Weg von Hamburg nach Ermland-Masuren machen wir noch einen kurzen Abstecher zu meiner Familie nach Stralsund – dorthin, wo alles begann. „Eigentlich fahren wir ja ab jetzt die ganze Zeit nach Hause“, sagt Gregor, als wir meinen Eltern ein letztes Mal winken. „Stimmt. Wir nehmen halt nur einen kleinen Umweg“, antworte ich. Dieser Umweg führt uns auf 7534 Kilometer um das größte Brackwassermeer der Erde. Schon seit etwa 2000 Jahren ist der Ostseeraum eine der bedeutendsten Handelsregionen Europas. Heute leben über 100 Millionen Menschen hier.
Einer von ihnen ist Teresa Sutisen. Sie und ihr Mann betreiben das „Konstan Möljä“ in Helsinki, ein uriges kleines Restaurant mit finnischer Hausmannskost. Neben salzigen Leckereien aus der Ostsee stehen Rentierragout, Rote Bete und jede Menge Kartoffeln auf der Karte. „Entweder bist du Finne, oder du kommst aus Polen“, sagt Teresa, als Gregor – geboren in der Nähe von Krakau – Wodka nach dem Essen bestellt. Sie ist selbst Polin und kam als junges Mädchen mit ihren Eltern nach Finnland.
Einige Gläser später zeigt sie uns Fotos von ihrem verschneiten Ferienhäuschen. Ihr Mann Harry grinst auf den Bildern in die Kamera und ist nur spärlich mit einem Handtuch bekleidet. Er kommt gerade aus der Sauna. So ein Häuschen habe hier jeder, sagt sie. Oder wenigstens ein Reisemobil. Zum Abschied steckt Teresa uns ihre Telefonnummer zu. „Wenn ihr eine Panne habt und eine Übersetzerin braucht, dann ruft unbedingt an“, sagt sie und umarmt uns wie alte Freunde.
Doch der Etrusco bleibt ein treuer Reisebegleiter und schafft auch die 13-Stunden-Fahrt vom Koli-Nationalpark bis nach Inari ohne Murren. Auf 852 Kilometern geht es auf menschenleeren Landstraßen geradeaus. „Halt an!“, brüllt Gregor plötzlich, fuchtelt wild mit den Armen Richtung Straßenrand und holt mich aus meiner Lethargie. Einem Herzinfarkt nahe, trete ich mit voller Wucht auf die Bremse. „Rentier!“, ruft er nur und stürmt dabei schon mit der Kamera in der Hand aus dem Auto.
Als Skandinavien-Neulinge wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass uns Dutzende Herden begegnen werden. Die kleine Hirschart lebt hier oben halbdomestiziert in freier Wildbahn. In Schweden ist die Rentierzucht sogar den Samen, der indigenen Volksgruppe Lapplands, vorbehalten. Die natürliche Haltung funktioniert aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte nördlich des Polarkreises; so wie das Wildcampen übrigens auch.
Bis tief in die Nacht sitzen wir an einem Fjord oder wilden Fluss am Lagerfeuer, schlafen bei Tag und fahren am Abend die nächste Etappe. Unser Biorhythmus ist durch die Weißen Nächte schon seit Helsinki völlig durcheinander. Es ist drei Uhr in der Nacht, als Gregor den Etrusco bei strahlendem Sonnenschein auf den Parkplatz vor den Nordkaphallen lenkt. Die Ausstellung und das Restaurant haben geschlossen, doch der weltberühmte Globus und das Plateau sind frei zugänglich.
Ein paar Selfies später hören wir das tiefe Brummen eines Motorrads. Ein junger Mann schlängelt sich durch die schmale Lücke an der geschlossenen Schranke vorbei und stellt seine Reiseenduro direkt vor dem Globus ab. Als Gregor ihn wegen seines Kennzeichens auf Deutsch anspricht, antwortet er irritiert: „Sorry, I don’t understand you. I’m from Israel.“ Er habe jahrelang gespart, um einmal mit dem Leihmotorrad zum Nordkap zu fahren, und nun gehe sein Traum in Erfüllung, erzählt er und bekommt dabei feuchte Augen. Wir verstehen ihn nur zu gut.
In den nächsten zwei Wochen lassen wir uns an der schwedischen Ostseeküste entlang treiben. Wir radeln über die bezaubernde Insel Ulvön und schlendern durch die Gassen Stockholms. Doch nach fast 6000 Kilometern brauchen wir dringend eine Auszeit und checken für drei Tage auf dem Campingplatz Tiveden in der wunderschönen Seenlandschaft Südschwedens ein. Hier traue ich mich auch endlich, mein Mitbringsel von Ulvön zu probieren: eine Dose Surströmming.
Der in Salzlake vergorene Hering gilt in Schweden als Delikatesse und wegen seines Gestanks im Rest der Welt als Zumutung. Schon während ich die Dose öffne, beschließt Gregor, dass er doch keinen Hunger mehr hat. Vorsichtig drapiere ich kleine Filetstücke auf dem Tonnbröd, den Kartoffeln und den Zwiebeln. Laut der Verkäuferin isst man das in Schweden so. Traditionell gibt es ein Glas Milch zum Nachtrinken. Ich habe leider nur Jägermeister. Trotzdem klebt der intensive Geschmack von Schwefel und Hering noch tagelang auf der Zunge.
Er verschwindet erst, als wir schon in Skagen sind. An unserem letzten Abend am nördlichsten Zipfel Dänemarks, wo sich Nord- und Ostsee treffen, sitzen wir wie so oft in den vergangenen vier Wochen am Feuer. „Wo wollen wir eigentlich nächstes Jahr hin?“, frage ich Gregor und schaue nachdenklich in die Flammen. „Wir wollten doch noch mal mit den Motorrädern nach Albanien“, sagt er und fängt an zu grinsen. Der Mensch braucht schließlich Träume.
Wir legten die gesamte Strecke (7534 km) in vier Wochen zurück. Empfehlenswert für eine Umrundung der Ostsee sind aber mindestens sechs Wochen, um nicht jeden Tag fahren zu müssen. Bei der Einreise nach Norwegen kann es zu Grenzkontrollen kommen. Unbedingt die Einfuhrgrenze für Alkohol (1 Liter Schnaps, 1,5 lLiter Wein, 2 Liter Bier pro Person) beachten, sonst wird’s teuer! Wildes Campen ist in Norwegen und Schweden erlaubt. In Polen und im Baltikum lieber die günstigen Campingplätze nutzen. Fähren mindestens vier Wochen vorher buchen. Für Angler: Vorher über die Bestimmungen des jeweiligen Landes informieren. Illegales Fischen wird in ganz Skandinavien hart bestraft.